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Herbst
in den Beskiden: Der Nebel zog bereits langsam das Tal hinauf, als Ty
2-911 mit ihrem Personenzug bei Timbark bergwärts fuhr. 14.10.1995
Polen
ist ein Land, das sich dem Reisenden nicht sogleich erschliesst.
Wer sich aufmacht, die Region Wielkopolska (Großpolen) zu
erkunden, wird wahrscheinlich erstmals jegliche landschaftliche
Höhepunkte vermissen. Das Wartheland, eine überwiegend flache
Gegend im Einzugsgebiet des gleichnamigen Flusslaufs, das sich
von der Oder bis zur Weichsel hin erstreckt, weist weder Berge,
Täler oder sonstige topografische Besonderheiten auf. Die
wenigen Flussbrücken der Bahn führen über breite und träge
dahinfliessende Ströme. Ab
und zu ein Kirchturm, ein Dorf mit Preußischen
Backsteinbauten und manchmal einigen Betonklötzen
realsozialistischer Prägung, dann wieder Kiefernwälder,
Weide- und Ackerland, so weit das Auge reicht.
Als
ich 1990 das erste Mal nach Polen fuhr, hätte ich mir
kaum vorstellen können, dass ich in der Folge ein
gutes Dutzend weitere Reisen in dieses Land unternehmen würde. Doch
es kommt oft anders, als man denkt.
Polen war 1990 das letzte Land Europas, das
Regelspur-Dampflokomotiven im nennenswerten Umfang einsetzte.
Noch gut zwei Dutzend Bahnbetriebswerke der Polnischen
Staatsbahn PKP verfügten über Dampfloks, die sie vorwiegend mit Personenzügen auf den zahlreichen Nebenstrecken des Landes,
aber gelegentlich auch im Rangierdienst und als Heizloks
einsetzten. Die grössten
Dampflok-Hochburgen waren Gniezno (Gnesen), Korsze (Korschen)
und Klodzko (Glatz), allesamt Bahnbetriebswerke, welche zahlreiche Nebenstrecken
zu bedienen und dafür eine beachtliche Zahl von Dampflokomotiven
im Einsatzbestand hatten.
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Beweggrund
für zahlreiche Reisen zu den Schienensträngen östlich
von Oder und Neisse: Dampflokomotiven, hier Ty2-911. |
Auf vielen dieser Nebenstrecken schien die Zeit beinahe stehen
geblieben zu sein: Bahnhöfe mit Preußischen
Backsteinbauten, Formsignale,
Bahnwärterhäuschen und Schrankenposten - natürlich alles
besetzt und bewohnt mit Personal. Eisenbahn unserer Väter und
Grossväter, wie ich sie zu Hause im Kindesalter erlebt
hatte. Eine
Eisenbahn, die auf Schritt und Tritt Geschichte erzählte von
der Polnischen, Preußischen,
Österreichischen Vergangenheit des Landes. Als Dampflokfreund
konnte man sich kaum ein
authentischeres und interessanteres Umfeld vorstellen.
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Wie in den meisten ehemals sozialistischen Ländern war das
Fotografieren von Eisenbahnen aber nicht immer gern gesehen.
Dagegen ermöglichte die Freundlichkeit und Offenheit der
Polnischen Personale nach ein paar klärenden,
freundlichen Worten und geschenkte Bilder oder Zigaretten fast immer,
die gewünschten Infos über Lok-Einsätze und Züge zu bekommen.
Meist wurde den
weitgereisten Gästen dann auch bereitwillig Zutritt zu Betriebsgeländen
erteilt und manchmal sogar die Erlaubnis für Führerstandsmitfahrten gewährt - Lokführer-
und Heizer-Praktika inbegriffen!
Schon bei meiner ersten Reise durch das Land wurde mir bewusst,
dass Polen bei Weitem nicht einfach nur flach und eintönig ist.
Vielmehr beeindruckte das Land durch seine regionale Vielfalt.
Schlesien mit seinen vielen Industriebauten aus der Gründerzeit
war ein erster Höhepunkt. Die Region grenzt an das
Lausitzer- und das Riesengebirge und seine deutsche
Vergangenheit ist schon an der Architektur kaum zu übersehen.
Wer von hier über Oberschlesien und Krakau Richtung Südosten
weiterreist, gelangt in die Beskiden, eine reizvolle
Mittelgebirgslandschaft, welche ihrerseits an die Hohe Tatra und
die Karpaten grenzt. Typisch sind hier die Dörfer mit ihren
Holzhäusern und langen Dächern. Ganz im Südosten im Dreiländereck mit der
Slowakei und Ukraine dann folgt das Bieszczady-Gebirge, eine der
heute am schwächsten besiedelten Gegenden Polens. Die noch bis
1948 tobenden Kämpfte zwischen der ukrainischen Aufstandsarmee
und Polen brachten Zerstörungen und die Vertreibung vieler
Bewohner mit sich, und in der Folge eroberte sich die Natur
weite Teile dieser Gegend zurück. So leben heute Braunbären, Wölfe,
Hirsche, Falken, Adler und sogar Elche in diesem
verlassenen Landstrich.
Im Nordosten des Landes wiederum liegen die
Masuren, eine weitläufige, bis heute fast unberührte Wald- und Heidelandschaft mit
rund 7000 kleineren und grösseren Seen und Teiche. Verstreute Gutshöfe,
Dörfer und
Städte mit Backsteinbauten erinnern an die Preußische
Vergangenheit, ebenso natürlich die vielen alten Wassertürme
und Gebäude der Bahnhöfe.
Heute
findet der Dampflokfreund nur noch Wolsztyn in Westpolen einen
Restbetrieb mit Dampf, und eine Vielzahl von Nebenstrecken, die
Anfang neunziger Jahre noch regulär mit Dampflokomotiven
betrieben wurden, sind längst eingestellt. Auf anderen Strecken
gibt es einen bescheidenen Restverkehr mit zwei oder drei
Zugpaaren täglich und ellenlangen Fahrzeiten.
Gäbe
es in Europa einen Preis für naturnahe Bahnanlagen, hätten die
PKP gute Chancen, den ersten Platz zu belegen! Auf vielen
Nebenstrecken liegen die
Gleise unter einem dichtem Grasbewuchs. Über
Jahrzehnte ausgebliebene Ersatzinvestitionen und der
vernachlässigte Unterhalt vom Oberbau ermöglicht auf den meist
günstig trassierten Strecken nur moderate Geschwindigkeiten. Am desolaten Zustand
der PKP-Strecken ist ersichtlich, dass das Land hat längst andere
Prioritäten gesetzt hat. Wer mit der Eisenbahn durch Polen reist, muss jedenfalls eine gehörige Portion Zeit und
Geduld mitbringen.
Dennoch kann das Land jedem Eisenbahnfreund und -Nostalgiker nur empfohlen
werden. Die auf den elektrifizierten Strecken der PKP
eingesetzten Elloks sind alleine schon einen Besuch Wert. Diese gehören zu
den ältesten heute auf den
Schienensträngen Europas eingesetzten Typen. Motive bieten sich auch auf
Hauptstrecken dank der überwiegend alten Eisenbahn-Infrastruktur
und vielen alten Gebäuden zahlreiche.
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Ty2-406
mit einem Personenzug auf Ostbahn zwischen Kostrzyn und Gorzów.
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Immer
einen Besuch wert: Die historische Altstadt
von Krakau mit Marienkirche und Tuchhalle am Rynek Główny
(Ring, Hauptmarkt). |
Kulturell
sei dem Leser ein Besuch der Städte Poznan (Posen), Gdansk
(Danzig) und vor allem Kraków (Krakau) empfohlen. Hier wurden
erhebliche Anstrengungen unternommen, um die alten Stadtkerne zu
renovieren. Viele historische Innenstädte zeigen sich
heute wieder im alten Glanz, und viele Dörfer und kleinere
Städte in Schlesien, dem früheren Ostpreußen,
Pommern und dem Wartheland sind architektonische Kleinode, die
einen Besuch rechtfertigen.
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Morgens
ist der schönste Tag. Im
ersten Licht eines Herbsttages werden in Jaworzyna Slaska
(Königszelt) TKt 48-18 und Tr5-65 für ihre Einsätze vorbereitet.
12.10.1995 |
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